Minimalismus leben mit Kindern?

"Minimalismus leben für dummies" von Selim Tolga, Wiley VCH

Selim Tolga, Autor der Neuerscheinung „Minimalismus leben für dummies“, sagt, es geht. Den Vorschlag, nur noch die Hälfte des Geldes auszugeben und dafür die doppelte Zeit mit der Familie zu verbringen, hält er selbst für schwer umsetzbar. Und doch macht er ein paar Vorschläge zu dem Thema.

Wir von obacht finden das sehr interessant und wollten nun gern direkt mit dem Buchautor sprechen.

Hallo Herr Tolga,

wenn man nach Ihrem Namen Selim Tolga im Internet sucht, erhält man als Ergebnis zuerst Ihre Seite über Magie und Zauberkunst. Unordnung wegzaubern geht wohl nicht?

Zum Glück geht das nicht. Dann hätte ich als Aufräum- und Minimalismuscoach nichts zu tun. Ich zaubere seit fast 25 Jahren und helfe Menschen beim Aufräumen, Reduzieren und Vereinfachen seit fast 20 Jahren. Eine Vermischung der Tätigkeiten gibt es nicht.

Wie wird man Experte für’s Aufräumen, wie war Ihr Weg?

Als Kind habe ich gerne Legosteine organisiert. Später das Schuletui vereinfacht. Früh wurde mir vermittelt: Was seinen Zweck erfüllt hat, kann weiter ziehen. Irgendwann habe ich Kollegen mit aufräumen und organisieren begonnen zu unterstützen. Und später habe ich das Talent und die Leidenschaft zum Beruf gemacht. 

Es gibt Menschen, deren Umgebung erscheint immer aufgeräumt: Die Schuhe im Schrank, der Kochlöffel am Haken und einfach alles dort, wo es hingehört. In anderen Häusern sieht man gleich, hier wohnt die Familie mit dem sympathischen Chaos. Im schlimmsten Fall gibt es aber nicht mal einen Platz um sich hinzusetzen. Gibt es bei Menschen generell den Aufräumtyp A, B oder C, oder woher kommt der große Unterschied?

In einem meiner YouTube Videos habe ich von Links- und Rechtshirner gesprochen. Der Linkshirner ist von Natur aus eher strukturierter und organisierter. Der Rechtshirner ist eher chaotisch veranlagt. Der Linkshirner kann aber ein Perfektionist sein und sich im Detail verlieren. Der Rechtshirner ist besser im Kategorisieren, weil er kreativer ist. Beide Seiten vermischen sich. Weitere Typen sind: Purist, Sanguiniker, Techie, Messie, Sammler, Generalist, Spezialist, Shopper. Die grossen Unterschiede kommen oft daher, wie die Unordnung/ das Zuviel entstanden ist. Man unterscheidet weiter: psychologische Ursachen (z.B. Prokrastination), technische Ursachen (falsches Ablagesystem), Äussere Einflüsse (z.B. Krankheit). Und: Oft spielt es eine grosse Rolle, wie wir aufgewachsen sind, welche Werte uns vermittelt wurden.

Was ist eigentlich Minimalismus? Alles wegschmeißen, nichts mehr kaufen, trocken Brot essen?

Ein Lebensstil. Es geht nicht um Verzicht, sondern um bewusste Wahl. Ein Minimalist ist ein Jäger nach Mehrwert. Was Mehrwert bringt, bleibt. Was erfreut, wie etwa eine schöne Pflanze oder positive Erinnerung, ebenso. Ein Minimalist lebt eine Jetzt-Kultur, lebt mit den Dingen, die ihm im hier und jetzt dienen. Er sagt zu der UN-Palette nein (unerwünscht, ungeliebt, ungebraucht, unsicher etc.). Es hat aber nichts mit Askese zu tun oder dass man nur ganz spartanisch leben muss. Ein weit verbreiteter Irrtum. Der Minimalist behält die Schätze, kauft nur noch neues ein, wenn es Mehrwert bringt und investiert eher in schöne Erlebnisse als in physische Dinge. Er sagt grundsätzlich Nein zu immer besser, schneller, grösser, anders und weiter und Ja zu langsamer, bewusster, leichter und freier.

Was uns vom obacht Familienmagazin am meisten interessiert, ist folgende Frage: Minimalismus als Familie mit Kindern – geht das überhaupt? Bringt das nicht noch mehr Konfliktpotenzial mit sich, als es zum Thema Konsum mit Kindern sowieso schon gibt?

Ich habe viele Kunden mit Kinder. Minimalismus ist relativ. Der Minimalismus einer Einzelperson sieht anders aus, als der von einer Familie mit Kinder. Minimalismus ist auch ein Vereinfachen von Abläufen. Reduktion von Komplexität und das geht auch bei einer Familie mit Kindern. Es geht auch darum, Kinder den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen beizubringen. Kinder verstehen relativ früh, dass ein neues Spielzeug zwar schön sein mag, aber nach kurzer Zeit zu einem alten Spielzeug wird, und dann wieder der Wunsch nach einem neuen kommt. Im Minimalismus Kinderzimmer geht es darum, dass sie mit weniger Sachen, ihr Zimmer schneller aufgeräumt haben und dadurch mehr Zeit zum Spielen haben und ihre Fantasie mit weniger Masse besser angeregt wird. Und Kinder brauchen das viele Zeug gar nicht. Was sie wirklich brauchen ist Zuneigung und gemeinsame Zeit und ein paar Lieblingsspielsachen.

Nehmen wir einmal Familie Hempel, die Mutter arbeitet halbtags, der Vater Vollzeit in Wechselschicht. Sie haben drei Kinder: 4 Jahre, 8 Jahre und 11 Jahre alt. Die Eltern würden gern mal „Minimalismus“ ausprobieren. Wie fangen sie am besten an?

Zu Beginn gilt: Man muss mit gutem Beispiel voran und die Vorzüge vom Minimalismus (mehr Ordnung, Zeit und Freiheit) vorleben. Wenn man selber einen chaotischen Schreibtisch hat, kann man nicht erwarten, dass Kinder aufräumen. Man konzentriert sich zuerst auf die Reduktion. Alles, was man innerhalb von einem Jahr nicht gebraucht hat, kann weiterziehen. Grundsätzlich gilt die 20/80 Regel. Welche 20% einer Kategorie ist regelmässig in Gebrauch? Das ist die Essenz. Man kann ein Wochenende pro Monat ins gemeinsame Ausmisten investieren und täglich 15 Minuten. So kommt man schnell vorwärts. Kinder ziehen schnell mit und finden es oft lustig. Man startet immer mit den physischen Dingen und ganz am Ende mit den emotionellen Geschichten. Später, wenn reduziert wurde, kommt das Vereinfachen, wo es darum geht, dass etwa alles ein praktischer Parkplatz bekommt und es so einfach ist, die Ordnung halten zu können. 

Ihr Wort zum Schluss:

Beim Minimalismus geht es nicht um das Wort „weniger“, sondern ums Wort „mehr“. Mehr Ordnung, mehr Klarheit, mehr Übersicht, mehr Zeit, mehr Geld etc. Das hat seinen Preis: Reduktion, Genügsamkeit – sich weniger um Besitz kümmern und mehr um die Art und Weise, wie man lebt.

Vielen Dank an Selim Tolga! @minimalismus.ch

Selim Tolga ist Aufräum- und Minimalismus-Experte. Als Coach hilft seit über zehn Jahren Menschen und Firmen, den Weg zurück zur Ordnung sowohl dauerhaft zu gehen als auch ihn mit weniger Ballast zu vereinfachen. Er hält Vorträge und gibt Kurse zum Aufräumen und zum Minimalismus, arbeitet als APP- Entwickler, Youtuber und Podcaster und ist Buchautor.

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