Der Familienfrieden ist wichtiger als vollständige Hausaufgaben

Lernen zu Hause ohne Lehrer und Klasse ist für Grundschüler eine große Herausforderung (Bild: Victoria Borodinova / pixabay)

Auch Grundschüler lernen und arbeiten jetzt zu Hause – manche mit digitaler Unterstützung, manche bekommen ihre Materialien als Papierkopien. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Die Präsenz der Lehrkraft und die individuelle Betreuung fehlen. Gerade für jüngere Kinder sind LehrerInnen auch Bezugspersonen, und der Lernerfolg ist maßgeblich an die Beziehung geknüpft.

In wieweit können und sollen Eltern dies jetzt auffangen und ersetzen? Wofür sind die Eltern der Grundschüler während der Schulschließung zuständig?

Für obacht haben Rektor Tobias Schiele und Lehrer Konrad Mayr der Grundschule an der Sutt in Kempten die Fragen beantwortet.

Welche Rolle sehen Sie in den Eltern bezüglich des Lernens, können Eltern Ersatzlehrer sein? Welche Erwartungen haben Sie?

Nein, Eltern können und sollen keine Ersatzlehrer sein! Jedoch haben sie im Home-Schooling, vor allem in der Grundschule die Aufgabe, das Lernen der Kinder zu begleiten. Das heißt, sie müssen zum einen die Materialien für ihre Kinder organisieren. Wir versuchen auf dem jeweils möglichst passenden Weg, den Familien Lern- und Übungsmaterial zukommen zu lassen. Bei manchen geht das digital (hier müssen die Eltern die Sachen ausdrucken) per Mail oder über unsere Homepage. Manche Familien haben aber keinen Zugang zu den digitalen Möglichkeiten, bzw. haben keine Möglichkeit, Material auszudrucken. Hier ist die Kreativität meiner MitarbeiterInnnen gefragt – von Hol- und Bringboxen zu bestimmten Zeiten im Pausenhof, über das Verschicken von Material per Post bis hin zu persönlichen Zustellungen ist da alles dabei.

Zum anderen  sollten die Eltern einen möglichst geregelten Tagesablauf herstellen. Eine festgelegte Zeit um Aufzustehen, geregelte Arbeitszeiten an einem möglichst ungestörten Platz. Da haben Mama und Papa neben ihren weiteren Aufgaben einiges zu leisten.

Das Lernverhalten von Kindern ist ja sehr unterschiedlich. Ich denke, wenn die Gruppe (also Klasse) fehlt, fehlt vielleicht auch die Motivation. Erwarten Eltern zuviel von ihren Kindern? Wie sehen Sie das? 

Das ist sicher nur individuell zu beurteilen. Die Kinder zu motivieren, ihre schulischen Aufgaben im geforderten Maß zu erfüllen ist aber oft eine sehr große Herausforderung für die Eltern. Das kann ich als Vater von zwei Schulkindern bestätigen. Hier das rechte Maß zu finden ist schwierig. Ich erachte den Familienfrieden als wichtiger, als die vollständige Erledigung der Schulaufgaben! Vielleicht beruhigt es, zu wissen, dass es allen ähnlich geht und das eigene Kind nicht das einzige ist, das vielleicht nicht alles gelernt hat. Mit fehlenden Erfolgserlebnissen fällt vermutlich auch die Motivation. Hilfreich ist hier sicher, in Kontakt zu den Lehrkräften zu bleiben. Ich möchte gerne alle Eltern ermutigen, uns Lehrern immer wieder Feedback zu geben, wie das, was wir anbieten auch bei den Kindern ankommt. Auch uns fehlt natürlich die Rückmeldung, um die Materialien möglichst gut an die Bedürfnisse anzupassen.

Was erwarten Sie für das nächste Schuljahr?

Eine Aussage für das nächste Schuljahr zu treffen ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig. Wir wissen ja auch noch nicht, wie lange die Schulen noch für welche Schüler geschlossen bleiben. Ich würde mir wünschen, dass die Schulen von Seiten des Kultusministeriums, der Regierung und der Stadt bei der Ausführung der Vorgaben – egal wie sie aussehen – so gut wie möglich begleitet und unterstützt werden. Das weitere Vorgehen wird auch zwischen den verschiedenen Schularten abgestimmt sein müssen, weil ja aus der Grundschule alle ViertklässlerInnen in verschiedene Schulen wechseln werden. Hier sehe ich eine große Herausforderung für das kommende Schuljahr.

Grundsätzlich hoffen wir natürlich, das nächste Schuljahr „ganz normal“ mit allen Kindern zu beginnen.

Wie ist die psychische Belastung von Kindern zu bewerten, wenn sie jetzt so lange meist ohne Gleichaltrige sind. Wäre es sinnvoll, nach Schulbeginn die Erfahrungen und Situationen der Kinder als wichtigen Teil des Unterrichtstages zu bearbeiten?

Für die meisten Kinder ist es sicher belastend, dass sie momentan ihre Freunde aus der Schule nicht treffen können und auch nicht auf die Spielplätze rausdürfen. Dazu kommt, dass wir hier im Stadtkern viele Familien haben, die keinen Garten oder Balkon haben und zum Teil in sehr beengten Verhältnissen leben. Da denke ich vor allem an unsere Familien, die in der Gemeinschaftsunterkunft im Freudental wohnen. Da wird es auf die Dauer in der Wohnung ganz schön eng. Das nagt mit Sicherheit bei einigen Kindern auch an der Psyche und muss aufgearbeitet werden.

Wir können sicher nicht am Tag 1, an dem die Kinder wieder in der Schule sind, so tun, als sei die letzten Wochen oder Monate nichts gewesen. Die Kinder müssen in die Art und Weise, wie Unterricht in Zeiten von Corona abläuft eingeführt werden. Außerdem wird die Aufarbeitung der Zeit ohne Schule anfangs mit Sicherheit einen großen Raum einnehmen. In schwerwiegenden Fällen stehen natürlich die SchulsozialarbeiterInnen, die Beratungslehrkräfte und die SchulpsychologInnen auch jetzt schon für Beratungen und individueller Unterstützung zur Verfügung. Darüber hinaus haben wir auch wertvolle Tipps und Hinweise vom KIBBS (Kriseninterventions- und Bewältigungsteam Bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen) erhalten.

Besondere Belastungen haben aber nicht nur die Kinder, sondern auch LehrerInnen. Welche Schwierigkeiten gibt es hier an der Schule?

Natürlich musste sich das ganze Kollegium erst einmal mit dem großen Bereich „Digitales Lernen“ beschäftigen. Je nach Alter und Vorwissen war und ist auch jetzt jede Lehrkraft auf einem anderen Stand. Aber alle Lehrkräfte versuchen, so gut es geht, mit der neuen Situation klarzukommen und kreative Lösungswege zu finden. Für das Kollegium ist es auch eine Chance, neue Ideen auszuprobieren und sich über die Erfahrungen auszutauschen. In manchen Fällen ist es nicht immer einfach, die Kinder zu erreichen. Da können zum einen technische Barrieren, wie ein fehlender Internetzugang oder auch Verständnisprobleme bei Menschen mit Migrationshintergrund auftreten. Auch der Kontakt zu den Kindern ist nicht immer einfach herzustellen und von vielen Schülern fehlt eine Rückmeldung über das, was sie zu Hause geleistet haben. Das wird dann vor allem bei Schulbeginn interessant, wenn sich herausstellt, wieviel die Kinder vom Lernen zu Hause wieder mit in die Schule nehmen. Ich befürchte, dass sich da die Leistungsschere noch weiter öffnet, als sie bisher war. Insgesamt gehen die Lehrer aber sehr verantwortungsvoll und ideenreich mit der Situation um.

Bei manchen Lehrkräften kommt zur schulischen Belastung natürlich auch noch eine persönliche, dann, wenn sie entweder selber zu einer Risikogruppe gehören oder Risikopatienten in der Familie haben.

Zukünftig werden wir uns auch intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir uns als Lehrkräfte schützen können. Maßnahmen wie Trennwände an der Supermarktkasse sind vor allem in der Grundschule nicht eins zu eins umsetzbar. Was machen Sie zum Beispiel, wenn zwei Kinder in eine körperliche Auseinandersetzung geraten oder wenn sich ein Kind verletzt? Ein 6-jähriges Kind wird nicht durchgehend in der Lage sein, von sich aus Abstandsregeln einzuhalten. Da sind wir neugierig, was uns die Praxis lehren wird, wenn wieder mehr Kinder in der Schule sind.

Claudia Sonntag für obacht per email mit Rektor Tobias Schiele und Lehrer Konrad Mayr der Grundschule an der Sutt in Kempten stellvertretend für das Kollegium.

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