Dauerthema Übertritt: BLLV plädiert dafür, die Entscheidungsverantwortung der Eltern zu stärken, statt an Notendurchschnitten festzuhalten

Bild: pixabay

Am ersten Unterrichtstag des Monats Mai erhalten alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 4 ihr Übertrittszeugnis. Für den Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) ist dieser 2. Mai deshalb jedes Jahr wieder ein wichtiges und einschneidendes Datum, denn die bayerische Praxis zum Übertritt und den damit verbundenen Übertrittszeugnissen muss hinterfragt werden. Der BLLV sieht die individuelle Förderung sowie die Chancen- und Bildungsgleichheit im aktuellen System nicht gegeben – auch unabhängig von den nochmals gestiegenen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie. Deshalb fordert der BLLV, die Verantwortung – nach professioneller Beratung durch die Lehrkräfte – in die Hände des Elternhauses zu geben – genau so, wie es in anderen Bundesländern bereits erfolgreich gehandhabt wird.

In Bayern basiert die Übertrittsempfehlung in der 4. Klasse auf dem Durchschnitt der drei Noten  der Schülerinnen und Schüler in den Fächern Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht. Aus Sicht des BLLV ist diese starre Orientierung, die neben Bayern nur noch Sachsen und Berlin durchziehen, nicht geeignet für eine altersgerechte, valide und faire Zuweisung der Schülerinnen und Schüler auf die weiterführenden Schularten.

Simone Fleischmann, die Präsidentin des BLLV, betont: „Die Stellen nach dem Komma entscheiden heute in Bayern erstmal über den weiteren schulischen Weg eines neun- oder zehnjährigen Kindes. Dieses Prinzip widerspricht einem modernen Menschenbild, der kindgerechten Ermöglichung von Bildungs- und Lebenschancen ebenso, wie den Prinzipien einer individuellen Sicht auf die Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern. So sorgt dieses System  für eine weiter wachsende Ungerechtigkeit  im bayerischen Bildungssystem. Die negativen Auswirkungen auf das Lernverhalten und die psychische Gesundheit bei vielen Kindern und deren Familien erleben die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen jeden Tag. Und Corona hat diese Effekte weiter verstärkt. Dass die Politik nicht einmal in dieser Ausnahmesituation in der Lage ist, die starren Muster zu verlassen und vom klassischen und eh schon nicht validen Übertrittszeugnis abzurücken, ist mir persönlich ein Rätsel und für alle Schülerinnen und Schüler an den Grundschulen hier in Bayern und ihre Familien ein schlechtes Zeichen für die Zukunft.“ 

Ganzheitliches und zeitgemäßes Leistungsfeedback

Simone Fleischmann weiter: „Es geht dem BLLV nicht darum, die Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler  und ihre Leistung zu senken, Leistung nicht zu fordern oder keine Rückmeldung zu geben, sondern Schule und Leistungsfeedback zu modernisieren, zu individualisieren und ganzheitlich zu sehen. Die Übertrittsempfehlung auf Basis von drei Noten macht keine Aussage über das Können oder das Potenzial der Kinder als Ganzes – mit all ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten die sie haben und für ihr zukünftiges Leben wirklich brauchen. Für was macht dann die Note 2,33 oder die 2,66 Sinn? Für eben die Verteilung im System. Sie erhält das dreigliedrige – ja eigentlich viergliedrige – bayerische Schulsystem um jeden Preis. Das aber ist nicht Ziel von Schule – das aber kann doch nicht das Ziel der Grundschule sein – das kann und darf doch nicht der Sinn des Lernens und Leistens der Schülerinnen und Schüler sein – nicht in der 4. Klasse und eigentlich nie. ‚Learning for the test‘ – bis zum Tag der ‚Verkündung‘: das darf nicht sein!“

Viele Schülerinnen und Schüler sind mit dem Leistungsdruck, dem Lernpensum, der Art des Feedbacks – oftmals eben reduziert auf Noten – und dem Lernrhythmus überfordert. Gleichzeitig werden viele Kinder von ihrem familiären Umfeld bestärkt und gefördert, während anderen diese Unterstützung fehlt. Dass es so nicht weitergehen kann zeigen auch die vielen Anrufe von Eltern beim BLLV. Dazu gehören Eltern, die sich Vorwürfe machen, weil sie ihrem Kind nicht ausreichend beim Lernen zu Hause helfen konnten oder Eltern, die ihr Bestes gegeben haben und trotzdem mitansehen müssen, dass es nicht für die gewünschte Schulart reicht. Das führt zu Dramen in den Familien! Das kann auch das hohe Engagement von Lehrern und Lehrerinnen nicht  ausgleichen. Nicht in einem unterversorgten System – nicht mit diesem eklatanten Lehrermangel, bei dem Förderlehrer die Klassenleiter ersetzen, Fachlehrer ganze Klassen oder am besten gleich zwei Klassen gleichzeitig unterrichten, Schulpsychologen Mangelware sind, erfahrene Kollegen und Kolleginnen alle Seiten- und Quereinsteiger und die Willkommenskräfte und Brückenbauer einarbeiten, Schulleiter zum Gesundheitsmanager, Integrationspolitiker zum Menschenfänger werden, um den Lehrermangel vor Ort aufzufangen.

„Und auch die Durchlässigkeit des Schulsystems in späteren Jahren kann diesen Nachteil kaum beheben. Die schulische Laufbahn darf weder vom Bildungsstand des Elternhauses noch deren  finanziellen Möglichkeiten abhängig sein“, so Fleischmann weiter. Allen Beteiligten müsse doch jetzt wirklich bewusst sein, dass Erfolg und Misserfolg beim Übertritt nach der 4. Jahrgangsstufe immer noch besonders vom Umfeld abhängen.

Plädoyer für einen Weg der individuellen Bewertung und Förderung

Zwar wurden seitens der Politik vor allem unter den Voraussetzungen der Corona-Pandemie die Vergabe von Noten und die Prüfungskultur überdacht. Am Ende ergaben sich daraus aber nur marginale  Änderungen, die teils auch kritisch diskutiert wurden, wie z.B. die Reduktion der Proben in der vierten Klasse. Denn durch weniger Noten hat jede einzelne ein noch größeres Gewicht in der Gesamtbewertung.

Der BLLV plädiert deshalb dafür, die Verantwortung für den Übertritt der Entscheidung von Eltern zu überlassen, begleitet von der professionellen Einschätzung durch die Lehrerinnen und Lehrer, die die Kinder und deren Wünsche und Potenziale kennen. Ein Weg, den schon viele Bundesländer in Deutschland erfolgreich gehen. So können Fähigkeiten und Kenntnisse umfassend bewertet sowie die Faktoren Sozialkompetenz, Persönlichkeitsentwicklung und Arbeitshaltung verantwortungsvoll und individuell berücksichtigt werden.

Dazu Simone Fleischmann: „Wir erwarten von der Politik mehr Vertrauen in die Eltern und in die Professionalität von Lehrerinnen und Lehrer. Wir können unsere Kinder einschätzen, wir wissen, was sie können und welche Schulart für sie geeignet ist. Im Gegensatz zum starren Festhalten an dieser ‚Schnittpolitik‘  wäre das ein Vorgehen, das Kindern eine faire Einschätzung unter Berücksichtigung ihrer gesamten Persönlichkeit bietet.

Übrigens: Das ist nur eine kurzfristige Forderung, um Bildungschancen auszugleichen. Längerfristig wäre eine – vom BLLV schon seit Jahrzehnten geforderte – längere gemeinsame Schulzeit die zukunftsweisendere Antwort auf diesen ungerechten Übertritt nach der 4. Jahrgangsstufe der Grundschule.

So könnten Kinder dann ihre Potenziale wirklich ganzheitlich entwickeln und individuell  gefördert und gestärkt werden.“

Im Gespräch mit dem Radiosender Antenne Bayern sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann zur Übertrittspraxis in Bayern:

  • „Wir haben schon weit vor Corona immer wieder in Zweifel gezogen, inwieweit diese drei Noten bei Kindern im Alter von zehn Jahren nachhaltig und langfristig die Verteilung auf drei Schularten erlauben. Denn wir wissen durch die vielen Wiederholer an den Gymnasien, an den Realschulen, durch viele, die abgeschult werden, die also vom Gymnasium zur Realschule und von der Realschule zur Mittelschule kommen, dass diese Verteilung schlicht nicht valide ist. Wir stellen daher stark infrage, dass dieser Notendurchschnitt mit zwei Stellen hinter dem Komma eine sinnvolle Übertrittsempfehlung erlaubt.“
     
  • „Das gilt gerade jetzt, wo wir wirklich nicht mehr von fairen Bedingungen in den vierten Klassen in ganz Bayern sprechen können. Durch Corona haben wir ja jetzt noch viel mehr Heterogenität. Deswegen sagen wir: kurzfristig den Elternwillen freigeben, das heißt professionelle Beratung durch die Lehrerinnen und Lehrer, ein gutes Gespräch mit den Eltern – dann aber entscheiden die Eltern, auf welche Schulart ihre Kinder gehen sollen.“
     
  • „Langfristig hat der BLLV ein anderes Schulmodell im Blick, nämlich eine längere gemeinsame Schulzeit, beispielsweise zehn Jahre gemeinsam mit guter Differenzierung innerhalb der Klassen und guter individueller Förderung. Aber eben nicht die Verteilung der Kinder in der vierten Klasse, weil das psychische wie physische Krankheiten produziert und weder valide noch gerecht Ist.“
     
  • „Es geht darum, dass wir eine Lernbiografie anschauen, ein Kind vom Kindergarten über möglicherweise das universitäre Dasein bis hin zur beruflichen Orientierung. Und das sollen wir in der vierten Klasse entscheiden? Ich weiß, dazu wird immer mit der Durchlässigkeit des bayerischen Schulsystems argumentier. ‘Durchlässig‘ heißt in Bayern aber: Dreimal mehr purzeln von oben nach unten als von unten nach oben. Dreimal mehr müssen am Ende in eine Schulart gehen, in die sie eigentlich nicht wollten, also vom Gymnasium zur Realschule oder von der Realschule zur Hauptschule. Das ist nicht die Durchlässigkeit, die wir wollen, damit wir werden wir den Kindern nicht gerecht. Der Stress für viele Kinder, für viele Kolleginnen und Kollegen und für die Eltern ist zu groß.“
     
  • „Gibt man den Elternwillen frei, gibt es möglicherweise zunächst einige, die überambitioniert für ihre Kinder unterwegs sind. Vielleicht wollen dann trotz der Beratung nochmal mehr ins Gymnasium gehen. Wir wissen aber aus anderen Bundesländern, die den Übertritt schon umgestellt haben – Bayern ist ja eins der wenigen Bundesländer, die das überhaupt noch so machen –, dass sich nach drei bis fünf Jahren ein sehr professionelles und sehr gutes Management einstellt. Der Weg dahin wird also vielleicht etwas schwierig und es braucht sicher Übung im miteinander. Aber auf lange Sicht gesehen ist es ein gesünderes Verfahren als die drei Noten mit zwei Stellen hinter dem Komma!“

Anzeige

Anzeige

Anzeige